Europa per Nachtzug entdecken

Europa per Nachtzug entdecken

Wie die Gesamtschule Delbrück der Idee von Europa mit einem Interrailpass näherkam

Europa per Nachtzug entdecken

 

Wie die Gesamtschule Delbrück der Idee von Europa mit einem Interrailpass näherkam

 

Mittwochnacht - genauer: um 3:13 Uhr - zweifelten wir am ungarischen Grenzbahnhof Lökoshaza an Europa. Das elektronische Dokumentenerkennungssystem der Grenzbeamten weigerte sich beharrlich, die Chipkarten mit dem Aufdruck ‚Aufenthaltstitel‘ zu erkennen. Konsequenz: Drei Schüler mit „fremdländischen“ Namen sollen den Zug Namen verlassen. Ihre Dokumente sollen von der ungarischen Polizei geprüft, die Reise danach erst fortgesetzt werden. Mitten in der Nacht? Mitten in der Nacht! Am Ende geht doch alles gut. Nach Diskussionen und Telefonaten darf unsere Gruppe vollständig aus Ungarn aus- und nach Rumänien einreisen. Die 30 Minuten später folgende Grenzkontrolle in Curtici bei der Einreise verläuft problemlos.

‚Europa entdecken. Aber wie?‘ lautete die Frage der Schule – seit 1. August 2024 „Europa-Gesamtschule“. Schüleraustausch? Haben wir! Auslandspraktikum? ETwinning? Alles schon da. Und dann die Idee: Osteuropa – nach wie vor für viele „terra incognita“. Mit dem Zug – wegen Klima. Mit dem Nachtzug – also keine Hostels. Mit Interrailpässen – die gibt es noch?

Es gab sie noch. Schnell waren 23 Q1er und Q2er gefunden und schworen sich auf die etwas andere Europatour ein: Eine Woche und mehr als 5000 Kilometer. Jeden Tag eine andere Stadt, ein anderes Land. Ohne durchgestyltes Programm, aber mit der Kamera. Sechs europäische Länder kennenlernen und eine Ahnung bekommen: Was ist Europa?

Dienstagvormittag geht es los nach Berlin. Delbrücks Bürgermeister Werner Peitz verabschiedet persönlich. Vier Stunden später stehen wir im Berliner Regen. Fast fünf Stunden Puffer bis zur Abfahrt des ersten Nachtzuges. Sicher ist sicher. Die ersten Deutsche-Bahn-Witze kursieren. Der Halt am Hauptbahnhof war gestrichen worden und so stehen alle um 19:00 Uhr auf Gleis 10 des Bahnhofs Gesundbrunnen im Wedding. Noch ein spontaner Gleiswechsel und dann geht es schnell: Der Nightjet 457 nach Wien hält kurz und noch bevor die 6er-Liegewagenabteile belegt sind, geht es weiter. Alles neu, alles eng, alles aufregend. Schlafen kann zunächst kaum jemand. Um 1.30 Uhr steht fast die ganze Gruppe auf dem Bahnsteig in Prag zum Frischluftschnappen.

Gegen 8 Uhr erreicht der Tross Wien. Gepäck einschließen, Tickets kaufen, Frühstück am Naschmarkt. Und dann zur Gedenkstätte Steinhof. Die Anfahrt ist zäh, der Aufstieg steil, das Thema hart. „Euthanasie“ in der früheren Heil- und Pflegeanstalt Steinhof, die so idyllisch gelegen ist und trotzdem Schauplatz unzähliger Morde an „Erbkranken“ war, wie behinderte Menschen im NS-Jargon hießen. Am Nachmittag steht Wien auf dem Programm. Um 19.30 Uhr stehen alle auf dem Bahnsteig und warten auf den berühmten „Dacia 347“, der von Wien nach Bukarest fährt. Zwei Gleiswechsel und viel Gerenne später sind alle drin. Der Zustand des rumänischen Zugs ist ein anderer als in der Nacht zuvor bei der österreichischen Bahn. Der Zahn der Zeit nagt nicht, er frisst. Zum ersten Mal können viele schlafen. Bis zur Grenzkontrolle in Lököshaza, als der Gruppe in der zweiten Nacht die Trennung droht. Denn Rumänien ist kein vollwertiges Schengenraum-Mitglied. Es stehen Grenzkontrollen an. Gesucht werden Schmuggelwaren. Und Menschen. Und falsche Papiere.

Der Dacia rollt zum Sonnenaufgang gemächlich durch die Weiten Rumäniens und erreicht um 10 Uhr Sighisoara, zu Deutsch: Schäßburg. Wir haben einen Termin. Um 11 Uhr begrüßt uns mit Simona Diaconu die stellvertretende Schulleiterin hoch oben über den Dächern der Stadt an der Bergschule – dem Joseph-Haltrich Liceum. Und weil Sighisoara vor 500 Jahren von Siebenbürger Sachsen gegründet wurde, steht Deutsch als Fremdsprache hoch im Kurs. Wir dagegen stehen im Schweiß. Die Stadt liegt steil am Hang, überall Treppen und Gassen. Google Maps ist überfordert. Die 150 Meter lange Schultreppe aus Holz gibt uns fast den Rest. In der Schule bekommen wir eine interessante Präsentation zu sehen, danach können wir in lockerer Runde mit Schülern über das Schulleben in Rumänien, das Abitur und was dann noch kommt sprechen. Wir mieten für unsere schweren Trekking-Rucksäcke ein günstiges Hotelzimmer, dann geht es befreit weiter. Die Altstadt ist Kulturerbe, verwinkelte Straße, bunte Häuser. Europa ist hier ganz weit weg von zu Hause. Wir lernen aber auch: Egal wie weit man wegfährt: Lidl ist schon da. Nach einem günstigen Einkauf sitzen wir um 20 Uhr fast im Stockdunkeln vor dem Bahnhofsgebäude von Sighisoara. Anzeigetafel? Fehlanzeige. Sollte der Zug Verspätung haben oder ausfallen werden wir es schon merken.

Dafür stehen 25 übermüdete GEDler am nächsten Morgen um Punkt 5 Uhr in der prachtvollen Ankunftshalle des Budapester Bahnhofs Keleti. Ein Blick in die Gesichter verrät: Langsam schwinden die Kräfte. Zwei Stunden später dann Entwarnung. Das 38 Grad warme Wasser des Széchenyi-Heilbades am frühen Morgen bringt Kräfte zurück. Die braucht es später auch: Den Nachmittag verbringen wir in der Gedenkstätte „Holokauszt Emlékközpont“ der Pava-Synagoge im Zentrum von Budapest. Die Sicherheitskontrolle am Eingang geht schnell. Im Gebäude und in der Ausstellung ist die gelöste Stimmung schnell verflogen. Das Schicksal der ab 1944 massenhaft in die Vernichtungslager deportierten ungarischen Juden wird detailliert nachgezeichnet. Mit Text und Bild. Ohne Samthandschuhe. Einigen Teilnehmern geht das zu nahe und man tritt den Rückzug an. Ganz am Ende dürfen wir alleine in der Synagoge die Eindrücke besprechen und sacken lassen.

Am Abend besteigen wir den Adria 1204 nach Split – und sind begeistert. Ein moderner, sauberer Nachtzug der ungarischen Bahn mit einem Speisewagen im „Mord-im-Orient-Express“-Stil. Keine Stunde nach der Abfahrt sitzt die ganze Gruppe im Speisewagen. Große Karte, kleine Preise. Der gemeinsame Abend im Speisewagen rundet einen teils tollen, teils bedrückenden Tag ab. Der Nachzug rattert ohne Hast in Richtung Kroatien.

Und genau da ist dann Endstation. In der gebirgigen Landschaft Dalmatiens – am Bahnhof von Drnis. Unfall. Strecke dicht. Lange passiert nichts. Dann ist es offiziell: Nichts geht mehr. Es kommen Busse. Wir erreichen Split unentspannt um 13 Uhr mit gut drei Stunden Verspätung. Die Stimmung wird nicht besser, als wir auf einem überlaufenen Parkplatz abgesetzt werden. Der Touristenhotspot mit den „Ladungen“ an Kreuzfahrttouristen ist überlaufen. Und weil Kroatien den Euro hat, wird klar: Billig wird der Tag nicht. Wer sich vom Zentrum entfernt, bekommt einen Eindruck davon, wie schön Split und sein Hafen sind.

Keine vier Stunden später muss es weitergehen: Pünktlich um 16.49 Uhr ruckelt der Nachtzug der kroatischen Bahn los in Richtung Slowakei. Wieder stehen wir recht bald, in der Nacht kommt es immer wieder zu Verzögerungen. Mit zwei Stunden Verspätung erreichen wir die letzte Station: Bratislava. Wie auch in Berlin ein Vorortbahnhof, mit dem Bus geht es ins Zentrum. Die Stadt erweist sich als kleine Perle – und nicht so teuer wie Split. Auf ein Restaurant mit landestypischem Essen können wir uns nicht einigen und so landen wir am letzten Abend auf der „Fressmeile“ einer schicken Einkaufsmall. Ein bisschen Lagerfeuer zum Abschluss.

Um 22 Uhr verlässt unser letzter Nachtzug Bratislava in Richtung Berlin – wir kommen auf die Minute pünktlich am Ostbahnhof an. Der Rest läuft wie ein Film an uns vorbei. S-Bahn zum Ostbahnhof. Frühstück. Warterei. Gleiswechsel. Nochmal Gleiswechsel. Ein rappelvoller ICE nach Bielefeld und eine noch vollere Regionalbahn nach Hövelhof.

Was nehmen wir mit? Europa ist mehr als London, Paris und Rom. Europa ist teilweise wie zu Hause und teilweise ganz fremd. In Europa verstehen sich heute die Bürger von Staaten, die sich vor 50 Jahren bekriegt hätten, wenn es hart auf hart gekommen wäre. Europa ist heute auch so, weil Deutschland in seiner Geschichte daran mitgewirkt hat, dass es so kam. Europa ist so vielfältig, dass jeder und jede selbst losziehen sollte, um es zu erkunden. Irgendwann vielleicht ohne Grenzkontrollen mitten in der Nacht. Nicht nur in Lököshaza.

Marc Eigendorf, Schulleiter

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