Von den Karpaten bis an die Adria – und eine Woche mit viel Geschichte

Von den Karpaten bis an die Adria – und eine Woche mit viel Geschichte

24 Schülerinnen und Schüler auf Interrailtour durch Osteuropa

Von den Karpaten bis an die Adria – und eine Woche mit viel Geschichte

 

24 Schülerinnen und Schüler auf Interrailtour durch Osteuropa

 

380? 455? Gut 500? Niemand schätzt die Zahl der weißen Lichtsteelen auf der rechteckigen Parkfläche im Wiener Vorort Penzlin richtig. Es sind genau 772 Stück, als an einem sonnigen Dienstagmorgen 24 Schülerinnen und Schüler der Europa-Gesamtschule Delbrück nach Anfahrt mit Bus und Bahn müde das Gelände der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“ durchschreiten und vor dem Steelenfeld verharren. Die Stimmung bekommt einen Dämpfer als klar wird, wo man gerade steht. Denn hier wurden Kinder mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung während des Nationalsozialismus umgebracht – an jedes der 772 Opfer erinnern seit 2003 die Steelen.

24 Stunden vorher hatte alles mit viel Heiterkeit und Aufregung begonnen: 5500 Kilometer, sechs europäische Länder, sechs Tage. All das liegt noch vor dem 24-köpfigen Teilnehmerfeld, als man sich mit schweren Reiserucksäcken und den guten alten Interrailpässen bepackt auf den Weg macht, um eine Ahnung zu bekommen, was das ist – dieses Europa, das seit Sommer 2024 auch den Schulnamen ziert. Ein bisschen Abenteuergeist umweht die Gruppe. Aber neben Freiheit und Erlebnis soll es auch ums Lernen, um Geschichte und Erinnerung gehen.

Los geht es nach Berlin. Ausgerechnet. Der Start einer sechstägigen Reise durch ein Europa ohne Grenzen und Einreiseschwierigkeiten – und das ausgehend von einer Stadt, die wie kaum eine andere für Teilung, Eingesperrtsein und das Gefühl, Grenzen nur unter Risiko seines Lebens überwinden zu können, steht. Quer durch Osteuropa geht es nicht im gemütlichen Flixbussessel oder im Billigflieger. Nachhaltig soll es zugehen. Und deshalb warten sechs europäische Nachtzüge mit Liegewagenpritschen auf die Delbrücker Gruppe. Am Montagabend ist die Aufregung groß, man quetscht sich auf ein Gleis im Tiefbereich des Berliner Hauptbahnhofes. Der „Nightjet“ der österreichischen Bahn ist pünktlich, die Wagenreihenfolge ein Glücksspiel. Ein kurzer Sprint und man ist drin. Die Betten sind „okay“ – mehr nicht. Bis zu sechs Personen teilen sich ein Abteil – eine Herausforderung für alle. Geschlafen wird wenig und schon um 7 Uhr am nächsten Morgen heißt es: Aussteigen am Wiener Hauptbahnhof. Gepäckeinschluss, ÖPNV-Tickets beschaffen, Frühstück.

Zwei Stunden später erreicht die Gruppe die 772 Steelen. Nur eine Zwischenstation, es geht weiter den ordentlich steilen Hang hinauf bis zur Gedenkstätte „Am Steinhof“, wo Magdalena Bauer die Ausstellungsräume bereits geöffnet hat und wartet. Über das NS-Euthanasie-Programm, die Ermordung von über 5000 Menschen, willkürliche und gewaltsame Erziehungsmethoden – alles damit die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ vermeintlich gesund und damit für Führer und Vaterland stark und erfolgreich wird. Auf dem Programm steht keine klassische Führung, kein Filmprogramm, keine zwei Stunden Stuhlkreis. Die Schülerinnen und Schüler übernehmen Teile der Ausstellung, bereiten die Teilthemen schriftlich vor, präsentieren sie ihren Mitschülern. Magdalena Bauer von der Gedenkstätte fragt nach, erklärt, vertieft und nennt offene Fakten. Und so erarbeiten sich die 24 einen Eindruck von der Systematik, der Bürokratie und der Eiseskälte, mit der die Beseitigung vermeintlich minderwertigen Lebens betrieben wurde. Das Steelenfeld sieht man auf dem Rückweg mit anderen Augen, vergessen wird es nicht. Stunden später: Die Innenstadt von Wien. Den Schalter nach der Euthanasie-Thematik umzulegen, gelingt nicht allen sofort. Trotzdem stehen am Abend alle pünktlich und mit vielen Eindrücken auf Gleis 10 und warten auf den legendären Dacia-Nachtzug der rumänischen Bahn CFR, der von Wien nach Bukarest fährt.

Bis ins siebenbürgische Sighisoara am nächsten Morgen geht es schnell – auch dank ausgebauter Bahntrasse. Für die folgenden 100 Kilometer nach Brasov braucht der Zug auf der alten Trasse gut drei Stunden. Zahllose Schilder an Schienen, Straßen und Brücken weisen darauf hin: Europa ist in Rumänien stark engagiert und baut an einer modernen Infrastruktur mit. Gegen Mittag erreicht der Zug den Kleinstadtbahnhof Sinaia in den Südkarpaten. Man ist versucht, nach Gleis 9 ¾ zu suchen aufgrund der klassischen Säulen und Laternen an den Bahnsteigen. Die zweite Überraschung folgt auf dem Fuße: Kiosk, Gepäckaufbewahrung, Linienbus – in Rumänien kommt man auch ohne Bargeld, dafür mit der Karte weit. Es folgt ein Lob auf die Nebensaison: Der Bus ist leer und an der Talstation der „Telecabina“ steht keine Menschenseele. Nach 20 Minuten Seilbahnfahrt stehen die Reisegruppenmitglieder verstreut auf 2300 Metern Höhe und lassen den Ausblick auf den gewaltigen und weitläufigen Bucegi-Nationalpark und damit eine andere Seite Europas auf sich wirken. Wiederum um halb acht steht die Gruppe nach einem strammen Marsch hinunter in die Stadt am Bahnhof und wartet auf den Bruder des „Dacia“: Der Nachtzug „Ister“ fährt quer durch Rumänien nach Budapest. Die Züge haben in den vergangenen Jahren ordentlich federn lassen, trotzdem stellt sich kein Lagerkoller, sondern viel Gemeinschaftsgefühl ein.

Eine Achterbahn der Eindrücke wartet in Budapest: Nach mehreren Tagen ohne echte Duschmöglichkeit ist das 38 Grad warme Wasser der Szechenytherme die hygienische Blaupause, auf die viele gewartet haben. Am Mittag wird es dann wieder ernst: Mit der U-Bahn geht es zum Dokumentationszentrum „Holokauszt Emlékközpont“. Eingelassen wird an der Sicherheitsschleuse nur, wer die Taschen geleert und seine Habseligkeiten hat prüfen lassen. Dann geht es los: Eine umfangreiche Führung durch die Gedenkstätte beleuchtet das Schicksal der ungarischen Juden in der Zeit des Nationalsozialismus. Und das besteht im Wesentlichen aus ihrer systematischen Unterdrückung sowie ihrer Deportation und Ermordung. Die Ausstellung ist detailliert, bildstark – und nimmt wenig Rücksicht auf zart Besaitete. Viele Originalfotos und längere Filmaufnahmen versuchen erst gar nicht, den Besuchenden mit Samthandschuhen zu begegnen. Dicht hinter den Delbrückern folgt eine geführte Jugendgruppe, die durchweg Kippa trägt. An die Ausstellungsräume schließt sich die eindrucksvolle frühere Synagoge an, wo es anschließend Einblicke in die jüdische Religion gibt. Wieder drängt sich auf: Natürlich macht Europa reisen und shoppen ohne Grenzen, eine gemeinsame Währung und andere Annehmlichkeiten aus. Gleichzeitig begegnet man immer wieder Spuren der Geschichte, die maßgeblich von Deutschland beeinflusst sind – und bleiben. Der Rest des Tages wird in Budapest verbracht.

Aufgrund einer Großbaustelle im Zentrum, ist der schöne Keleti-Bahnhof dicht, die Gruppe muss in den Vorort Kelenföld ausweichen – und wartet dort erst einmal vergeblich auf den ungarischen Nachtzug nach Kroatien. Nach der schweren Programmkost hebt dieser Zug die Laune. Modern, sauber und ein „Old-school-Speisewagen“ mit Holztischen, Lämpchen, Porzellangeschirr und einer eigenen Küche, die zu zivilen Preisen kocht –. Die Gruppe lässt sich nicht lange bitten. Der Ausblick am nächsten Morgen entschädigt für die dünnen Liegen. Die Adriaküste Dalmatiens und das näherkommende Meer sorgen für Euphorie. Die Schönheit der Landschaft verdrängt den Gedanken daran, dass Teile der Gebiete nach wie vor nicht betreten werden sollen. Es könnten noch Minen aus den Balkankriegen vorhanden sein. Auch das Spuren aus der jüngeren Geschichte Europas. Bei 28 Grad und blauem Himmel steigt die Gruppe in Split aus – und steht praktisch mitten im Hafen. Gut die Hälfte der Gruppe macht sich mit der Fähre auf den Weg zur Insel Brac, die andere Hälfte zieht es in die historische Altstadt von Split. Mit dem ein oder anderen Sonnenbrand geht es in der Nacht zur letzten Station der Reise.

Bratislava ist die „black box“ auf der Liste und entpuppt sich als kleine Perle. Der Hauptbahnhof ist arg in die Jahre gekommen, die Gepäckschließfächer funktionieren nur zu einem Bruchteil. Zu Fuß geht es hinunter in die Stadt, vorbei am Präsidentenpalast. Eine europäische Hauptstadt, aber nicht groß, laut und unübersichtlich. Eine tolle Altstadt, kleine Gassen, es gibt viel zu sehen und Atmosphäre zu erleben. Mit dem Sonnenuntergang schwinden auch die Kräfte und die Ersten sitzen gut eine Stunde vor Abfahrt des Zuges auf den Bänken von „Bratislava hlavna stanica“ und sehnen den letzten Nachtzug – besser gesagt: seinen Liegewagen – herbei. Dieser lässt sich – wie im Jahr zuvor – bitten. Gegen halb elf ist er dann da. Um 8 Uhr am nächsten Morgen erreicht die Gruppe zum zweiten Mal Berlin. Die Durchsagen und Nachrichten zu gestrichenen Zügen sowie Weichen- und Stellwerkschäden sorgen vereinzelt für hämische „Heimatgefühle“. Dass am Ende der 5500 Kilometer langen Reise ausgerechnet der Zug von Bielefeld nach Hövelhof ausfällt, ist nur eine Fußnote.

Sechs Tage nach dem Aufbruch steht die Gruppe mit dem ausgefüllten Interrailpass, der auch als „Tor zu Europa“ bezeichnet wird, wieder in Hövelhof, das sich selbstbewusst als „Tor zur Senne“ bezeichnet. Bleibt was? Die Knochen sind schwer, die Gedanken ungeordnet. Europa ist nicht nur London und Paris, Rom und Amsterdam, sondern auch Bratislava und Sinaia. Europas Ausland ist manchmal fast wie zu Hause und teilweise ganz fremd. In Europa leben heute Staaten und Menschen zusammen, die sich vor 80 Jahren bekriegt haben – und vor 50 Jahren bekriegt hätten, wenn es hart auf hart gekommen wäre. Europa ist heute auch so, weil Deutschland in seiner Geschichte daran mitgewirkt hat, dass es so wurde. Europa ist so interessant und vielfältig, dass jeder und jede selbst einmal losziehen kann, um es zu erkunden. Und auch wenn es anstrengend ist: ein Zwischenstopp in Wien an den 772 Steelen sollte drin sein.

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